Things shaped like letters and vice versa1
Für sein Projekt »Found Font« begann Paul Elliman damit, auf Reisen von anderen Menschen
weggeworfene Gegenstände aufzusammeln und typografisch zu verarbeiten. Vermutlich rührt
der Name seines Projekts von »Found Object« von Duchamp und Dada her, die Alltagsgegenstände
zu Kunstwerken machten. Seine Schriften, deren Regeln besagen, dass sie nach einmaliger Benutzung
nicht weiter verwendet werden können, bilden ein riesiges Archiv, welches mit der immer größer
werdenden Anzahl weggeworfener Objekte stetig wächst. Jede von Ellimans Formen stellt einen »Letter«
aus dem lateinischen Alphabet dar und zeigt gleichzeitig das ursprüngliche Objekt. Mit anderen
Worten: Elliman sammelte zufällig gefundene Gegenstände, las aus ihnen eine typografische Form heraus
und integrierte sie in seine Schriftart. Mit Ausnahme der Hieroglyphen sind alle Schriftzeichen
abstrakte und willkürliche Symbolsysteme, bei denen es keine direkte oder natürliche Beziehung
zwischen der visuellen Form und dem Objekt gibt, auf das sie sich beziehen. Aßerdem lassen es die
phonetischen Zeichen aus dem lateinischen Alphabet oder Hangul nicht zu, die Bedeutung ihres Inhaltes
zu lesen.2 Diese willkürlichen Charaktere von Sprache und Buchstaben kommen in Ellimans Arbeitsprozess
gut zum Ausdruck. Ellimans Werk, das durchgängig Objekte mit harten und klaren Formkonturen verwendet,
ähnelt »Lettern« aus dem Bleisatz, die ebenfalls eine solide physische Beschaffenheit besitzen.
Eine weitere zu betrachtende Arbeit ist die Schrift »Lÿno« von Karl Nawrot (zusammen mit
Radim Peško entwickelt). Lÿno ist sowohl organisch als auch erratisch in ihrem Charakter.
Die Schrift besitzt vier Styles: Jean, Stan, Ulys und Walt. Jeder Style besitzt die
gleiche Strichstärke, unterscheidet sich aber durch jeweils verschiedene Formen. Diese
Schriftart kann auf unterschiedliche Weisen untereinander kombiniert werden.
Damit verleiht sie dem gesetzten Text ein zufälliges, bisweilen sogar surreales Aussehen.3
Aus Kombinationen von Pappausschnitten seiner eigenen Arbeiten wurde »Lÿno-Jean« hergeleitet.
Seit 2004 arbeitet er bei der Gestaltung von Schriften mit »custom templates«. Diese Templates
variieren in Größe und Material – von einem einfachen Stempel aus Punkten, Linien und Flächen
bis hin zu einer dreidimensionalen Form, wie der eines Architekturmodells. Mit diesen einfallsreichen
typographischen Werkzeugen erschafft Nawrot kontinuierlich neue Formen. Diese Formen werden bei der
Schriftgestaltung, aber auch für das Design von Plakaten und Büchern, eingesetzt.
Elliman verwendet hinterlassene Objekte und transferiert sie in »Found Font«. Der Prozess
und die Arbeit von Nawrot sind selbstreferenziell. Beide Designer verwenden die Appropriation
als Methode der Gestaltung. Seit der Pop Art und der Konzeptkunst der 1960er Jahre ist die
Appropriation in der zeitgenössischen Kunst wie auch im Designbereich ein Mittel, um ein Werk
in einen neuen Kontext zu stellen.
Durch dieses Mittel kann ein zeitgenössisches Element einer bestimmten Epoche oder
eines Mediums ebenso wie eine von anderen Autor*innen bevorzugte Technik behandelt
werden. Die Absichten und Wirkungen der Appropriation sind unterschiedlich: Sie können
den potenziellen Wert des Mediums beleuchten, einem Werk oder einer bestimmte Figur
Respekt zollen oder sie gegenteilig abwerten. Damit sind Zitat, Plagiat, Parodie und
Hommage Arbeitsmittel der Appropriation. Die Voraussetzung dabei ist, dass Schöpfer*in
und Betrachter*in ein gemeinsames Wissen und Verständnis des Kontextes der schöpferischen
Aneignung teilen: Der Ursprung der Appropriation gibt Zugang zu Herleitung und Aussage der Gestaltung.
Shared Graphics from things that are shared and combined
Für »Teilen und Teilhaben« verhandelt mein Projekt die Entstehung grafischer Elemente
aus Gegenständen, die andere Studierende mit mir geteilt haben. Diese sollen im weiteren
Verlauf wieder an die Teilnehmer*innen für ihre eigenen Arbeiten zurückgespiegelt werden.
Die Objekte, mit denen ich arbeite, stammen aus Gesprächen und Begegnungen mit Studierenden.
Die Auswahl war dabei meinen Gesprächspartner*innen überlassen. Es ging um Alltägliches – Dinge,
welche sie in der Tasche hatten oder die auf ihren Tischen lagen, wie ein Plastik-Dino oder ein Teil
eines Schlüsselanhängers. Die Auswahl erfolgte immer seitens meines Gesprächspartners oder meiner
Gesprächspartnerin. Damit wollte ich meinen Bias bei der Auswahl vermeiden – etwa Gegenstände, die sehr
leicht zu bearbeiten waren oder die bereits von sich aus interessant schienen. Beispielsweise waren das
Objekt ein Wollknäuel von Hannah und ein Schal von Sehee, die ich wegen ihrer organischen
Form und Umsetzung als Grafik nicht für die Gestaltung in Betracht gezogen hätte. Durch diese Art der
Auswahl entstanden neben geometrisch klar definierten Formen auch organische Grafiken, die sich dann untereinander
kombinieren ließen und für mich neue und unerwartete Ergebnisse hervorbrachten.
Die Skizzen entstanden als Outlines mit Bleistift. Jeweils zwei Objekte wurden in einer Komposition
miteinander kombiniert. Durch das Mittel der Auslassung bei der Überlappung zweier Objekte blieben die
Objekte als solche erkennbar – gleichzeitig entstanden im Negativraum der Überschneidung spannende
neue Formen. Anschließend füllte ich die Formen mit Marker aus und transferierte die Ergebnisse auf
Kopierpapier, um dichtes Schwarz in den Zeichnungen zu erhalten. Zu Beginn meines Zeichenprozesses standen
Bleistiftskizzen. Dabei habe ich die verschiedenen Flächen des mir ausgeliehenen Objekts analysiert und
in zentralen Perspektiven (z.B. Top, Front, Side etc.) skizziert, um das Objekts auf seine reine Flächigkeit
zu reduzieren und dabei gleichzeitig zu explorieren, ob und inwiefern eine grafische Reduktion der Perspektive
weiterhin einen Rückschluss auf das Objekt zulässt. Erst daraufhin entstanden ausgewählte Perspektiven als
Markerzeichung. Bei einigen Objekten musste ich den Zwischenschritt der Skizze auslassen und sie direkt als
Grafik reinzeichnen, weil die Inhaber*innen ihre Objekte nur kurzzeitig entbehren konnten. Bei wenigen, sehr
detaillierten Gegenständen – wie der Kette von Anni – arbeitete ich in mit Kopiertechniken, um das Objekt schnell
zu erfassen und danach in eine Grafik zu überführen. Im nächsten Schritt wurden zwei bis drei Objekt-Grafiken
miteinander in eine neue Komposition gestellt. Durch das Mittel der Auslassung bei der Überlappung zweier Objekte
blieben die Objekte als solche erkennbar – gleichzeitig entstanden im Negativraum der Überschneidungen spannende
neue Formen. Anschließend füllte ich die Formen aus und transferierte die Ergebnisse auf Kopierpapier, um ein
dichtes Schwarz in den Zeichnungen zu erhalten.
Abschließend wurden die Skizzen als Vektoren digitalisiert und katalogisiert. Die Idee dahinter ist, den Katalog mit all
denjenigen zu teilen, die Teilhabe an diesem Projekt genommen haben. Dafür habe ich 63 Skizzen und 52 Grafiken mit 26 Objekten
aufbereitet. Um die Grafiken teilen zu können, wurde eine Website entwickelt. Auf dieser können alle Grafiken über eine Liste
in der Vorschau angesehen und als Vektoren heruntergeladen werden. Die Grafiken können dann wiederum von anderen Gestalter*innen
in ihren eigenen Arbeiten im Kommunikationsdesign integriert und geremixt werden. Durch die Verbindung zweier- oder dreier Objekte
sollen die Grafiken einen Dialog zwischen den dahinter stehenden Designer*innen anstoßen, der neue Kollaborationen hervorbringt.
The white of the word4
Während meines Gestaltungsprozesses versuchte ich mich bei der Formfindung an lateinischen Buchstaben zu orientieren,
ohne aber typografisch etablierte Gestaltgesetze zu beachten. Mir gefiel die Idee, dass die Montagen immer noch einzelne
Objekte erahnen lassen, sie andererseits aber auch wie Buchstaben aussehen, ohne dass dies explizit vorgegeben ist.
Gleichzeitig wuchs während des Prozesses mein Interesse an der Art, wie der jeweilige Stift, Fineliner oder Marker das Objekt
sorgfältig umfuhr und mit der Spitze kalligrafisch die Oberfläche des Papiers berührte. Durch diesen Prozess konnte ich viel
über die Entstehung von Weißräumen nachdenken. Die schwarzen Formen zwischen dem Weißraum meiner Skizzenblätter erinnerten
mich an »The Stroke« von Gerrit Noordzij, der die Beziehungen zwischen dem schwarzem Strich der Schrift und dem Weißraum
dazwischen anschaulich beschrieb.5 Noordzij erklärte, wie die Spitze eines Stifts die Form einer Schrift beeinflusst. Weil in
meinem Fall der Umfang vom Griff des Fineliners oder Markers bis zur Spitze des Stifts abnahm, haben die jeweiligen Stifte beim
Umfahren des Gegenstandes an seiner Kontur auch unterschiedliche und eigene Umriss-Räume aufgezogen.
Impressum
Shared, Drawn, Reshared
Inseok Hwang
Schwerpunktprojekt Schrift und Typografie
Prof. Andrea Tinnes und Teresa Schönherr
Wintersemester 2022/2023
Danke an:
Lisa Gawlick, Jeongyun Hyun, Hannah Lentz
Sehee Park, Juni Byun, Johanna Wendel
Henrik Rieß, Emilia Prescher, Tessa Darimont
Alya Ivanina, Nina Pieper, Fanny Liebhardt
Jiwon Park, Amelie Knopper, Hyeonjeong Lim
Anni Billhardt, Luka Vonderau, Luca Lange
Maite-Elisabeth Schönherr, Constanze Kohlhaas
Philip Bellmann, Elia Kim Schick, Runa Sandig
Eva Dietrich, Sanna Schiffler und Marion Kliesch
Schrift
Gräbenbach Regular, Medium, Bold